Arbeitszeiterfassung

02. Mai 2024

Serie zur sozialen Nachhaltigkeit: Nr. 2

Das „S“ in ESG steht für soziale Nachhaltigkeit. Ein wesentliches Element hierfür ist die Work-Life-Balance, also eine ausgewogene Verteilung von Zeit für Arbeit und Privates. Um diese zu erreichen, kann die Erfassung von Arbeitszeit hilfreich sein. Denn wenn die Arbeitszeit dokumentiert wird, werden Überstunden erkannt, können reduziert und damit mehr Zeit für persönliche Dinge  erreicht werden. Außerdem kann durch eine Erfassung der Arbeitszeit die Einhaltung von Pausen- und Ruhezeiten sichergestellt werden. Dies führt dazu, dass regelmäßige Entspannungsphasen eingeplant werden können, was positiv für die Gesundheit der Arbeitnehmer ist.

Aber: Die Arbeitswelt und die Arbeitsweise der Arbeitnehmer befinden sich in einem disruptiven Wandel. Der moderne Arbeitsalltag – insbesondere bei sogenannten White Collar-Jobs – weicht in vielerlei Hinsicht von dem der klassischen Blue Collar-Jobs ab, welche der Gesetzgeber bei der Normierung der arbeitsschutzrechtlichen Regelungen im Blick hatte.

Heutzutage verlangen Arbeitnehmer vielfach nach mehr Flexibilität bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit. Viele wollen eine realistische Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erreichen. Dazu gehört es auch, etwa den Nachmittag mit der Familie oder Freunden zu verbringen und dann später noch einmal zu arbeiten. Viele Arbeitgeber möchten im Zusammenhang mit „ESG“ ihren Arbeitnehmern diese Art an Flexibilität ermöglichen. Dabei stoßen sie aber schnell an Grenzen, die das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vorgibt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das ArbZG in seiner jetzigen Form noch zeitgemäß ist.

Aktuelle Rechtslage

Außerhalb des Geltungsbereichs von Tarifverträgen, in denen abweichende Vereinbarungen getroffen werden können, gilt nach den Vorschriften des ArbZG derzeit Folgendes:

  • Arbeitszeit: Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
  • Ruhepausen: Die Arbeit ist durch im Voraus feststehende Ruhepausen von mindestens 30 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs bis zu neun Stunden zu unterbrechen. Bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden müssen die Ruhepausen 45 Minuten betragen. Länger als sechs Stunden hintereinander dürfen Arbeitnehmer nicht ohne Ruhepause beschäftigt werden.
  • Ruhezeit: Die Arbeitnehmer müssen nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden.

Bereits diese Auflistung macht die fehlende Vereinbarkeit mit dem Wunsch der Arbeitnehmer nach Flexibilität deutlich. Besonders betroffen sind dabei – wie häufig – Eltern und insbesondere Mütter. Diese wollen/müssen zumeist nachmittags ihre Kinder aus der Kita oder Schule abholen und Zeit mit diesen verbringen. Dies wäre auch problemlos möglich, wenn sie dann abends noch weiterarbeiten könnten. Dabei stoßen sie dann aber schnell an Probleme mit der Ruhezeit. Denn wenn sie etwa noch von 20 Uhr bis 23 Uhr gearbeitet haben, dürfen sie am nächsten Tag erst um 10 Uhr wieder anfangen, obwohl ihre Arbeitszeit häufig bereits um 8 Uhr beginnt.

Zudem gelten derzeit die folgenden Vorschriften zur Arbeitszeiterfassung:

  • Erfassung: Arbeitgeber müssen nach dem ArbZG über acht Stunden pro Tag hinausgehende Arbeitszeit sowie auch jede (erlaubte) Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen
  • Aufbewahrung: Die Aufzeichnungen sind mindestens zwei Jahre aufzubewahren.
  • Verstöße gegen die Aufzeichnungs- oder Aufbewahrungspflicht stellen Ordnungswidrigkeiten dar, die mit einer Geldbuße bis zu dreißigtausend Euro (pro Verstoß) geahndet werden können. Einer vorherigen Anordnung zur Aufzeichnung/Aufbewahrung durch die Behörde bedarf es nicht.
  • Übertragung auf Arbeitnehmer: Die Aufzeichnungs- oder Aufbewahrungspflicht kann auf die Arbeitnehmer übertragen werden. Dies geschieht regelmäßig im Zusammenhang mit Vertrauensarbeitszeit. Der Arbeitgeber muss dann aber jedenfalls stichprobenhaft kontrollieren und überwachen, dass die Aufzeichnung und Aufbewahrung auch tatsächlich erfolgt.
  • Der Arbeitgeber kann das System zur Erfassung – elektronisch oder in Papierform – wählen.
  • Organisatorische Maßnahmen: Darüber hinaus muss durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt werden, dass die gesetzlichen Ruhepausen und die Ruhezeit eingehalten werden.
  • Verstöße hiergegen sind ebenfalls eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße bis zu dreißigtausend Euro (pro Verstoß) geahndet werden kann, ohne dass es einer vorherigen Anordnung der Behörde bedarf.
BAG-Entscheidung aus dem Jahr 2022

Zum Teil wird vertreten, dass nach einer Entscheidung des BAG aus dem Jahr 2022 (Beschluss vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21) weitergehende Verpflichtungen zur Arbeitszeiterfassung für Arbeitgeber bestehen. So müssen nach dieser Ansicht Beginn und Ende und damit die Dauer der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden erfasst werden, und zwar von der ersten Stunde an.

Der EuGH hatte bereits am 14.5.2019 (C-55/18) in dem sogenannten Stechuhr-Urteil entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Nachdem der deutsche Gesetzgeber trotz dieser klaren Aufforderung des EuGH jahrelang nicht aktiv geworden ist, hat das BAG sodann im September 2022 entschieden, dass eine solche Verpflichtung in Deutschland bereits bestehe. Arbeitgeber seien bei einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) bereits nach der derzeitigen Rechtslage verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Überstunden erfasst werden.

Weiter hat das BAG entschieden:

  • Es reicht nicht aus, wenn Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern ein solches System lediglich zur Verfügung stellen. Dieses System muss vielmehr auch tatsächlich verwendet werden.
  • Diese Verpflichtung erstreckt sich auf alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer (5 Abs. 1 S. 1 BetrVG). Für Organe und leitende Angestellte sind Ausnahmen möglich.
  • Solange der Gesetzgeber nicht tätig wird, kann der Arbeitgeber das System zur Arbeitszeiterfassung – elektronisch oder in Papierform – wählen.
Entwarnung für Arbeitgeber

Für Arbeitgeber hat diese Entscheidung zu großer Unsicherheit geführt. Denn einerseits hat das BAG eine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung festgestellt. Andererseits aber dem Gesetzgeber noch einmal deutlich zu verstehen gegeben, dass er handeln muss. Es stellten sich mithin insbesondere folgende Fragen: Sollte man jetzt eine Zeiterfassung einführen, die dann ggf. nicht den Neuregelungen im ArbZG entspricht? Kann man abwarten, bis der Gesetzgeber (endlich) tätig wird? Und was passiert, wenn man nicht tätig wird?

Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst zu beachten, dass die BAG-Entscheidung unmittelbar nur die beteiligten Betriebsparteien bindet. Weiter ist wichtig, dass ein Verstoß gegen § 3 ArbSchG nicht mit einem Bußgeld belegt ist. Es drohen damit keine unmittelbaren Konsequenzen bei Verstößen bzw. Nichtbefolgung. Nur und erst nach Feststellung eines Verstoßes durch die Arbeitsschutzbehörden kann eine Anordnung zur Umsetzung erteilt werden. Wird gegen diese Anordnung verstoßen, kann ein Bußgeld in Höhe von bis zu dreißigtausend Euro verhängt werden.

Solange keine solche Anordnung erteilt wurde, können Arbeitgeber daher auch weiterhin abwarten, bis der Gesetzgeber tätig wird.

(Gescheiterte) Reformbestrebungen

Dies insbesondere deshalb, weil nicht absehbar ist, wann es endlich Klarheit geben wird. Zwar wurde am 18.4.2023 ein Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) für ein reformiertes Arbeitszeitgesetz bekannt. Dieser wurde aber nach erheblicher Kritik, insbesondere an der mangelnden Flexibilität und Gestaltungsmöglichkeiten sowie am bürokratischen Aufwand, nicht mehr aufgegriffen. Seitdem ist wenig bis gar nichts passiert und es ist auch nicht davon auszugehen, dass sich dies in der laufenden Legislaturperiode noch ändern wird.

Ansätze für ein modernes Arbeitszeitrecht

Zukünftige Reformansätze für ein modernes Arbeitszeitrecht sollten den Wunsch vieler Arbeitnehmer berücksichtigen, flexibel zu arbeiten und so Beruf und Privatleben bestmöglich in Einklang zu bringen. Dies würde dann auch den Arbeitgebern die Möglichkeit geben, das Thema soziale Nachhaltigkeit weiter auszubauen. Allzu starre und bürokratische Regelungen werden daher weder den Interessen der Arbeitgeber noch denen der Arbeitnehmer gerecht. Insbesondere bedarf es einer flexiblen Gestaltung der Ruhezeit. Wer etwa zwischendurch die Kinder aus der Kita oder Schule abholt, sollte abends auch noch berufliche E-Mails checken dürfen, ohne gegen die Ruhezeiten zu verstoßen. Dies könnte problemlos durch die Einführung einer wöchentlichen Ruhezeit erreicht werden. Auch Vertrauensarbeitszeit sollte erhalten bleiben. Mobiles Arbeiten darf nicht durch starre Vorgaben erschwert werden. Zentral für diese Fragen ist auch eine Definition der Zeiten, die überhaupt zur (aufzuzeichnenden) Arbeitszeit gehören sollen.

Um gleichzeitig die Bedürfnisse der klassischen Blue Collar-Jobs zu erfüllen, bei denen das hinter dem ArbZG stehende Ziel des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer deutlich mehr zum Tragen kommt, könnten etwa Bereichsausnahmen geschaffen werden.

Praxishinweis

Unternehmen sind nicht zuletzt im Sinne der sozialen Nachhaltigkeit gut beraten, die Arbeitszeiten und -zeitmodelle ihrer Arbeitnehmer auf den Prüfstand zu stellen. Dies umfasst auch ohne die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung die Analyse, wo Arbeitszeitverstöße gehäuft anfallen und wie Arbeitszeitmodelle so gestaltet werden können, dass Arbeitszeitspitzen nachhaltig abgebaut bzw. vermieden und Arbeitsabläufe gleichwohl effizient aufrechterhalten werden können. Der Prozess ist aufwendig. Er dürfte sich aber insbesondere im Hinblick auf die rechtliche Compliance, das Image des Arbeitgebers bei seinen (potenziellen) Arbeitnehmern, das Leistungsvermögen effizient ausgelasteter, nicht überlasteter Arbeitnehmer und einer zielgerichteten Frauenförderung lohnen.

Bezüglich der Reformbestrebungen des Gesetzgebers bleibt die Hoffnung auf eine echte, zeitgemäße und differenzierte Modernisierung des Arbeitszeitrechts. Diese sollte nicht nur die physische und psychische Gesundheit der Arbeitnehmer schützen, sondern auch eine faire, respektvolle Arbeitskultur fördern. Schließlich besteht in der Arbeitszeit eine direkte Verbindung zwischen rechtlichen Regularien und sozialer Nachhaltigkeit.

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